Rückblick von Theresia Saurer Oberthaler
16. März 2016, 25. Mitgliederversammlung

1968

Ein magisches Jahr – Vietnamkrieg Proteste in Amerika und Studentenrevolten in der westlichen Welt.
Auch in der Schweiz machten sich viele Leute Gedanken über ihr Konsumverhalten sowie den Hunger und das Elend in anderen Teilen der Welt.
In Gwatt am Thunersee wird das Manifest Erklärung von Bern von vorwiegend reformierten Theologen formuliert.
1000 Personen unterzeichneten das Manifest und verpflichteten sich, 3% ihres Einkommens für die Entwicklungszusammenarbeit zu spenden.

1971 

Die Erklärung von Bern (Kurzform EvB) wird ein Verein.
Der Verein importierte 1974 aus Tansania das erste offizielle Fair Trade Produkt, den Pulverkaffee Ujama. Als Informationsträger, für die Anliegen der sogenannten 3.Welt, lancierte der Verein die Jute statt Plastik-Taschen und brachte 1976 über 100‘000 Taschen in Umlauf.
Mit den 3.Welt Läden versuchte die EvB die Konsumenten zu informieren und deren Bewusstsein zu bilden.

Thurgau

Im Januar 1973 wurde in Frauenfeld der Film Bananera Libertad von Peter von Gunten ausgestrahlt. Der Film deckte die Ursachen der sogenannten Unterentwicklung in Paraguay, Peru und Guatemala (Plantagenarbeiter) auf und stellte den Zusammenhang zur schweizerischen Wohlstandsgesellschaft (Bananenkonsumenten) her.

Die Frauenfelder Bananenfrauen und deren Gründerin, die Pfarrfrau Ursula Brunnerliess die Idee des „Gerechten Handels“ nicht mehr los. Erst verkauften sie Chiquita Bananen mit einem Aufpreis, ab 1986 importierten sie direkt Konzern unabhängige Nica-Bananen aus Nicaragua. Immer mit dem Ziel, die Konsumenten über weltwirtschaftliche Zusammenhänge zu informieren.

Dieser Direktimport wurde immer vielfältiger und die EvB konnte diese Aufgabe nicht mehr alleine bewältigen. Sie versammelte Leute aus den verschiedensten politischen, sozialen, kirchlichen und ökologischen Gruppierungen und gemeinsam wurde nach einer Lösung gesucht.

1977  wurde die Importgenossenschaft OS3 (Organisation Schweiz-3.Welt) gegründet.

20 Jahre später, 1997, wurde daraus die heutige Claro Fair Trade AG.

Es war ein Erwachen und Bewusst werden von Zusammenhängen. Das Wissen, dass durch unsere Wohlstandsgesellschaft ein grosser Teil der Produzenten von Grosskonzernen ausgebeutet wird, wurde zur Belastung. Deshalb versuchte man mit Hilfe von Produkten, die direkt bei den Genossenschaften der Produzenten eingekauft wurden, die Konsumenten zu informieren und zu sensibilisieren. Dieses Engagement führte auch zu negativen Stimmen und man wurde als linke und naive Träumer bezeichnet.

Romanshorn

Im Frühling 1979 gründete Irène Rieder mit Kantischülern eine Dritt-Welt-Gruppe.
Ich war im Februar 1977 von meinem mehrmonatigen Indientramp zurückgekehrt und erlebte dabei einen Kulturschock. Obwohl ich im Juni 1979 mein 2. Kind gebar, oder eben gerade deshalb, war es für mich sehr wichtig, mich mit anderen Menschen über ein gerechteres Miteinander austauschen zu können, und so schloss ich mich der Dritt-Welt-Gruppe an. Als Irene Rieder im Herbst wegzog um Ethnologie zu studieren, übernahm ich mit Überzeugung die Gruppe.

Von der Gemeinde und vom Coop bekamen wir die Erlaubnis, jeden Freitag Morgen einen Info- und Produktestand vor dem Coop aufzustellen.

Die Prospekte und Produkte holten mein Mann und ich im Regionallager der VEGS (Vereinigung für Entwicklung, Gerechtigkeit und Solidarität) in Weinfelden und lagerten sie bei uns zu Hause. Den Stand holte ich jeweils mit einem Handkarren im Werkhof ab.

1981 machten die Kantischüler ihren Matura Abschluss. Ich schloss mich mit Erika Müller von Terre des Hommes und Anneli Schnurrenberger von Incomindios zusammen, um gemeinsam einen Stand zu betreuen – Gemeinsam ist man stärker.

Wir hatten das Glück, für ein halbes Jahr Gastrecht in einem leerstehenden Laden im Alleehof zu bekommen. Danach hiess es wieder, mit dem Handkarren den Stand im Werkhof zu holen und diesen vor dem Allee-Ladenlokal aufzustellen. Wir waren sozusagen die Vorreiter des späteren Wochenmarktes (ab 1983).

Langsam wurde es kalt. Da hatte Anneli die zündende Idee. Das Ladenlokal unten an der Rislenstrasse 1, vom ehemaligen Schuhflicker Flessatti, stand leer und es gehörte der Gemeinde. Also fragte ich den Gemeindeammann an.

Nachdem sie genau wissen wollten, was wir dort vorhätten und wir versprachen, dass wir weder randalieren noch das Haus besetzen würden (das war zu dieser Zeit hochmodern = Autonome Jugendzentren durch Hausbesetzung), wenn wir in 2 bis 3 Jahren wieder ausziehen müssten, gaben sie uns die Bewilligung. Nicht nur das, sie wollten auch einen Beitrag leisten und überliessen uns das Lokal gratis. Wir mussten nur die Heizkosten selber tragen.

So hatten wir ab November 1982 wieder eine vorläufige Bleibe und Anneli konnte ihren SP- Bücher-Flohmarkt im hinteren Raum unterbringen.

In dieser hinteren guten Stube trafen wir uns regelmässig zu Schulungszwecken und zum Informationsaustausch. Wir luden diverse Gruppen ein, die uns ihre Ideen vortragen konnten. Von da an gehörten auch Henny und Mark Kilchmann-Kok fest zu unserer Gruppe und unterstützten uns tatkräftig, sei es beim Verkauf oder Organisieren von Vorträgen und Aktionen wie z.B. zur Adventszeit Lichter statt Waffen für den Frieden auf dem Bahnhofplatz. Für die GSOA (Gruppe Schweiz ohne Armee) organisierten wir einen bewilligten Marsch durch Romanshorn (mit Polizeiaufgebot), der allerdings nicht so gut ankam. Ich wurde als egoistische linke Feministin und Nestbeschmutzerin beschimpft; ich solle lieber zu Hause bei Mann und Kindern bleiben.

Ab 1985, 2 Jahre später, waren wir wieder ohne Lokal. Das hiess erneut, Verkaufslager zu Hause, Freitagsstände, Jahrmarktstände, Suppentagepräsenz usw.

In dieser Zeit stellte uns Helga Wienrich, damalige Geschäftsführerin vom Geschenkeladen s’Lädeli, ein Regal in ihrem Laden zur Verfügung und sie verkaufte für uns fairen Tee, Kaffee, Honig und Birnel von der Winterhilfe. Da sie ebenfalls von der Arbeit der Bananenfrauen überzeugt war, durften wir auch die Bananen in und vor ihrem Lokal verkaufen.

Aufgerüttelt durch die Wegwerfmentalität, begünstigt durch die aufkommenden Aludosen, bat ich um eine Bewilligung, an unserem Stand am Wochenmarkt,  Aluminium und Blech zu sammeln. Der Werkhof stellte uns zwei Sammelbehälter inklusive schwerem Hammer (um die Dosen platzsparend platt zu hämmern) zur Verfügung und wir informierten die Leute über den ökologischen Vorzug der Wiederverwertung. Noch Anfang der 90-er Jahre wurden wir deshalb spöttisch belächelt:„Was wir schon mit so ein paar Aludosen ausrichten könnten!“ –  Heute wird zum Glück vieles separat gesammelt und entsorgt. Trotzdem ist Littering immer noch ein grosses Thema.

Unterdessen hatte ich 3 Kinder und machte gerade den Abschluss einer mehrjährigen nebenberuflichen Ausbildung.  So war ich froh, dass am 17. Februar 1991, der Trägerverein mittenand von engagierten Leuten aus den verschiedensten Gruppierungen gegründet wurde. Henny Kilchmann-Kok stellte sich als erste Präsidentin zur Verfügung. Wir wollten wiederum ein Ladenlokal und wurden fündig. Wir schrieben und verschickten Bettelbriefe an die verschiedensten Institutionen und Privatpersonen. Die von uns kalkulierten Fr. 7000 Startkapital kamen nicht ganz zusammen. Trotzdem wurde das Lokal in Fronarbeit neu gestaltet und unseren Bedürfnissen angepasst. Die VEGS gewährte uns längere Zahlungsfristen und Produkte in Kommission. 

Am 6. April 1991 konnten wir an der Sternenstrasse 1 als Mittenand-Welt-Laden einziehen. Ich war erleichtert, dass mein „12 jähriges Kind“, gut betreut, auch ohne mich weiter lief, denn ich gebar im Oktober mein 4. Kind.

Da die Buchhalterin Beatrice Oleson nach Mexiko auswanderte und mir ihren teuren Computer mit der Buchhaltung vererbte, übernahm ich für ca. 11 Jahre die Finanzen. Nicht ganz freiwillig, den Zahlen waren noch nie meine Stärke.

Mittenand-Welt-Laden

Die Prospekte mit den Informationen im Eingangsbereich waren fast zahlreicher als die Produkte im hinteren Ladenzimmer. Anfangs, nebst dem Umweltschutzpapier und dem Birnel, nur mit Produkten aus der sog. 3.Welt: Handwerk, natürlich die Jutetaschen, Tee, Kaffee, Honig und die Nicabananen. Wir wagten auch mal eine „handgelismete“ Kleiderkollektion anzubieten: Alpaka aus Peru und Baumwolle aus Bangladesch.

Ja, wir waren ein „handgelismeter“ Laden: lauter natürliche Materialien, ein bisschen ethno, ein bisschen hippiebunt und alternativ, wie es damals Mode war. Man hob sich vom Alltäglichen ab und versuchte dadurch eine sozial- und ökologisch verträgliche Botschaft zu vermitteln. Das ökologische Bewusstsein kam immer mehr dazu und wir waren froh, mit den  umweltverträglichen Held Produkten auch die entsprechenden Informationen anbieten zu können. Später kamen Bio-Kosmetika und Holzarbeiten von umliegenden betreuten Werkstätten dazu.

Fleissige Ladenfrauen verkauften selbstgemachte Konfitüre. Wir waren immer knapp bei Kasse und jeder Zustupf war willkommen. Die Miete von Fr. 500 netto war für uns viel Geld. Dank netten Sympathisantinnen, die etwas mehr, und auch viel mehr, als den Mitgliederbeitrag zahlten, konnten wir uns immer wieder über Wasser halten.

Regelmässige Schulungssitzungen, Vorträge und Diskussionen  gehörten selbstverständlich dazu, um uns und die Kundschaft fundiert informieren zu können.

3 Jahre später, 1994, wurde Bernadette Berchtold Reich zur 2. Präsidentin gewählt. Auch sie hatte wieder viele neue Ideen, den Laden in Romanshorn einem noch breiteren Publikum bekannt zu machen.

1999  gelang es ihr, einen grösseren und besseren Standort an der Alleestrasse 44 zu organisieren (im jetzigen Strick-In). Nach langen Diskussionen unterstützten wir das finanzielle Wagnis (Fr. 850 Miete)  und Bernadette Berchtold Reich behielt recht. Dank ihrer engagierten Umsicht wuchs die Bekanntheit wie auch der Umsatz ständig an.

Am 10. März 2005  wurde Christine Ackermann zur 3. Präsidentin gewählt.

Mein Fazit
Es tut gut, in einem schönen Laden einkaufen zu können und zu wissen, dass dies alles hochstehende, ökologisch und sozial verträgliche Produkte sind. Die Informationsmöglichkeiten haben sich geändert in der Familie „Homo sapiens“, aber wie sieht es mit der Gerechtigkeit aus? Trotzdem bin ich immer noch eine Träumerin, und träume mit Freude und Überzeugung meinen Traum von EINER Menschheit. 
Theresia Saurer Oberthaler, März 2016

 

2001-2004
Das Sortiment wurde laufend erweitert und das Lebenmittelangebot durch BIO- und Demeter-Produkte der Marke VANADIS noch attraktiver.

2006
Dem Verein wurde ein grösseres Lokal direkt neben dem aktuellen Ladenlokal an der Alleestrasse 44 angeboten. Unsere Reserven von Fr. 25’000 konnten aber die budgetierten Umbaukosten von Fr. 33’000 nicht abdecken. Da wir als Verein keinen Bankkredit beantragen konnten und es der Claro Schweiz nicht möglich war uns finanziell zu unterstützen, lancierten wir einen Spendenaufruf. Dank dieser Spenden, sowie über 680 Stunden freiwilliger Arbeit und  entgegenkommender Handwerker aus dem Dorf, wurde das Lokal nach unseren Bedürfnissen in einem Monat umgebaut.  Am 20. Oktober feierten wir Eröffnung.

2009
Das Haus wurde verkauft und bekam einen neuen Eigentümer.
2011/2012
Das Gebäude wurde von Grund auf saniert und erhielt 2013 als erstes PlusEnergieHaus den Schweizer Solarpreis.
Präsidentin Christine Ackermann, März 2016

Woher stammt der Name ‚Max Havelaar‘?

Ausgabe von 1891 (Wikipedia)

Max Havelaar oder Die Kaffeeversteigerung der Niederländischen Handels-Gesellschaft ist der Titel eines Romanes, der 1860 in Holland vom niederländischen Schriftsteller Eduard Douwes Dekker unter dem Pseudonym Multatuli (lat. „Ich habe vieles ertragen“) veröffentlicht wurde.

Der Roman handelt, weitgehend autobiografisch, von der Karriere des Kolonialbeamten Max Havelaar auf Java in Niederländisch-Indien. Auf Java wurde er zu einem Anwalt der Entrechteten und Unterdrückten, deren Schicksal er in Romanen schilderte. Seine Karrierre als Beamter endete, als er schwere Verfehlungen seiner Vorgesetzten aufdeckt und letztlich das gesamte Kolonialsystem in Frage stellt.  Gegen Ende des Buches tritt der pseudonyme Autor, Multatuli, selbst hervor, zerreißt die Illusion, sein Buch sei ein Roman, und formuliert eine leidenschaftliche Anklage gegen eine selbstherrliche, inkompetente Kolonialverwaltung, die vom Mutterland faktisch nicht kontrolliert werden kann.

Buch und Hauptfigur sind in den Niederlanden bis heute sehr populär. 2002 erklärte die niederländische Literaturwissenschaft das Buch zum wichtigsten in niederländischer Sprache geschriebenen Werk. Seinen literarischen Rang verdankt der Havelaar paradoxerweise dem Umstand, dass er nicht nur Literatur ist: Indem Multatuli die Form des Romans auf den letzten Seiten durchbricht, wächst er über die Nachahmung literarischer Vorbilder und über seine Zeit hinaus. Die Titelfigur des Buches hat auch verschiedenen Organisationen, die sich dem Fairen Handel verpflichtet fühlen, ihren Namen gegeben, so auch der Max Havelaar-Stiftung Schweiz. 1976 wurde der Roman von Gerard Soeteman verfilmt, unter anderen mit Ruger Hauer.(Wikipedia)